Themen-Artikel, Deutschland, 8. November 2022
Riese in Gefahr? 
Ist die Ivenacker Ringeiche in Gefahr? Könnte dem berühmten Baum die Stamm-Neigung von 18 Grad zum Verhängnis werden?
 
Das Deutsche Baumarchiv rät, ab jetzt genauer hinzusehen.
 
Mecklenburgische Seenplatte im Jahr 2003. Unerwartet liegt der alte Eichenkoloss von Goldenbaum (Stammumfang 8,80 m, Alter ca. 500 Jahre) am Waldboden. Diagnose: Schrägstand und Windwurf durch eine Böe. Der gewaltige Wurzelteller ragt bis heute wie ein Mahnmal gen Himmel. 
 
Ein anderer Fall im brandenburgischen Havelland, Frühling 2006. Die mächtige Fouqué-Eiche bei Nenndorf (Alter um 400 Jahre, Stammumfang 8,50 m) erlebt das neue Jahr nicht mehr. Der geneigte, halbseitig offene Stamm, bricht auf halber Höhe ab. Bei völliger Windstille. Beides könnte auch der berühmten Ringeiche drohen, die 2016 gemeinsam mit den übrigen Eichen des Ivenacker Tiergartens zum ersten Nationalen Naturmonument erklärt wurde. Ihre Krone ragt beachtlich hoch. Und sie neigt sich erkennbar zur Seite – Neigungswinkel 18 Grad!
 
Aber wo liegt das mögliche Risiko? Ist die Ringeiche nicht wohl behütet? – Stefan Kühn vom Deutschen Baumarchiv versucht eine Erklärung:
Bei berühmten Bäumen kommt es typischerweise zu einer Glorifizierung. Sowohl das Alter als auch die Stabilität werden leicht überschätzt. Das liegt quasi in der Natur des Menschen. Er selbst kennt die Fakten gut, hat gemeinsam mit dem Physiker und Baumsachverständigen Frank Rinn (Erfinder des Bohrwiderstandsmessgeräts Resistograph) das Alter und die Wüchsigkeit der Ivenacker Eichen vor einigen Jahren erforscht. Ergebnis: Die Ringeiche hat einen Stamm wie ein Rohr. Innen komplett hohl. Die stärkste Stelle fand Kühn auf der Südseite: 45 cm Restwandstärke. Ansonsten überall eher 25-30 cm. Irgendwo könnte Holz nachgeben. Oder das tragende Holz an der Basis könnte durch den Druck von oben deformiert werden. Die Neigung könnte zunehmen und damit verbunden auch das Sturz-Risiko.
 
Zu pessimistisch? Stefan Kühn winkt ab. In 80 Prozent aller sonstigen Fälle ist das sicher der Fall. Da werden aufgrund der stets drohenden Verkehrssicherungspflicht zahllose Bäume mit einem Übermaß an Aufsicht und Kosten belastet, nicht selten sogar unnötig gestutzt oder gekappt. Viele wissen gar nicht, wie enorm belastbar und regenerationsfähig Bäume sind. Doch bei den Baumberühmtheiten – wie hier der Ringeiche – ist etwas mehr Realismus geboten. Das Deutsche Baumarchiv hat jahrelang die Bohrkerne mit den Jahrringen der Ivenacker Eichen aufbewahrt, die Mitte der 1990er Jahre aus den Stämmen herausgebohrt wurden. Die Auswertung lässt keinen Zweifel: Auch bei extrem optimistischer Einschätzung ist die Ringeiche heute maximal 850 Jahre alt. Die Brüder Kühn vom Baumarchiv schätzen sogar, dass es real etwa 750 Jahre sind. Die Stiel-Eiche mit ihrem gewaltigen 12,70-m-dicken Stamm reicht mit den Wurzeln bis ins Hochmittelalter zurück, als noch Schweineherden zur Eichelmast in den Wald getrieben wurden. „Iva“, das ist slawisch und bedeutet „Weideland“.
 
Auf den Info-Tafeln vor der Ringeiche ist heute freilich etwas anderes zu lesen. Da will man die Legende nicht lassen. 1000 Jahre müssen es sein! Und eben da liegt das Problem: Legenden fallen nicht. Wirkliche Eichen dagegen manchmal schon.
 
Das DBA empfiehlt daher schon jetzt einen klugen Notfallplan zur Rettung des Riesen. Es ist vor allem akribisch zu prüfen, ob die Neigung des Stammes zunimmt. Und wenn es in Zukunft eng wird, sollte bereits ein naturnahes Konzept vorliegen, um den Baum zu sichern. Es ist enttäuschend, wie wenig Kreativität und Mittel bis dato in unsere Naturdenkmalpflege fließen, beklagt das Deutsche Baumarchiv. Milliardenbeträge fließen in Asphalt und Beton. Weder Kosten noch Mühen werden gescheut. Nur die Naturdenkmalpflege scheint sich nicht weiter
zu entwickeln. Wäre es nicht spannend, Naturdenkmale einmal unter High-Tech-Aspekten, etwa aus Sicht der Architektur, zu betrachten? Wo sind die Architekten, die mit modernsten Mitteln an der Kronensicherung bedeutender Bäume arbeiten? Wo sind die unsichtbaren Pylone und Fiberglaskabel, mit denen man uralte Bäume wie die Ringeiche technisch raffiniert, optisch unauffällig und mit physikalischer Eleganz für weitere Jahrzehnte sichern könnte? Das Deutsche Baumarchiv regt den Architekten-Wettbewerb an! Der genialste Entwurf sollte umgesetzt werden, wenn es einst notwendig wird.
 
Die deutsche Naturdenkmalpflege braucht generell mehr Struktur und Vision, finden die Kühns. Wenig ist heute davon zu sehen. Rund um die berühmte Rieseneiche bei Borlinghausen am Teutoburger Wald hat man jetzt einen metallenen Bauzaun aufgestellt. Das grünende Denkmal, das an die mutige Schlacht der Germanen gegen die übermächtigen römischen Besatzer vor 2000 Jahren erinnern könnte, wird zur banalen Baustelle.
 
Resignation kommt für die Brüder vom Deutschen Baumarchiv dennoch nicht in Frage. Die schwache Performance Deutschlands in der Naturdenkmalpflege ist nicht in Stein gemeißelt. Deutschland könnte wieder Weltspitze im Naturschutz werden, so wie es vor 100 Jahren einmal war.
Währenddessen befasst sich das Deutsche Baumarchiv schon jetzt mit dem nächsten Mega-Thema: Den zunehmenden Dürren und Hitzewellen in unserer Heimat. Die lassen auch die schutzwürdigen Bäume unseres Landes nicht kalt. Die Lösung: natürlich Wasser! Doch das Wasser im Notfall auch in die Böden zu bringen, braucht geschickte und einfallsreiche Technik oder sehr viele hilfsbereite Hände.
 
Gemeinsam mit möglichst vielen Gleichgesinnten will das Deutsche Baumarchiv die rund 2.000 bedeutendsten Bäume Deutschlands gesund und wohlbehalten durch kommende Dürren bringen. Jeder und jede ist willkommen, wenn es darum geht, die schönsten alten Bäume unseres Landes (um die uns so viele Nachbarländer beneiden) für uns und unsere Kinder zu erhalten. 
 
Machen Sie mit?
 
 
Der Einsatz lohnt sich, denn die mehrhundertjährigen Eichen, Linden, Ahorne, Ulmen und Eiben Deutschlands sind ein wahrer Genuss.
Wertvoll und einzigartig. Wunder der Schöpfung. Und es gibt noch vieles zu entdecken!